Hilfe bis zur letzten Minute in Mozambik
Seit Monaten bereitet sich das INTERPLAST-Ärzteteam mit André und Eva Borsche aus Bad Kreuznach auf einen Hilfseinsatz in Mosambik vor. Es wird der dritte Einsatz nach Beira sein, den Dr. Christiane Meigen, Gynäkologin und Akupunkturärztin aus Idar-Oberstein organisiert. Am Flughafen in Frankfurt treffen wir die welterfahrene Änästhesistin Dr. Gabi Laroseé und der seit 50 Jahren humanitäre Einsätze in aller Welt mitgestaltende Anästhesiepfleger Walter Gerhards sowie den ehemaligen Anästhesie – Chefarzt Dr. Ales Stanek aus Wiesbaden. OP-Pfleger Sinischa Wagner koordiniert die vielen medizinischen Materialien und reist mit 4 Koffern aus Hamm an.
Diesmal ist aber alles anders: die politische Situation in Mosambik ist plötzlich nach der letzten Wahl vor ein paar Tagen instabil geworden, es finden überall Proteste statt, es wird geschossen, es gibt Tote. Wir stecken lange die Köpfe zusammen. Was sollen wir tun? Unsere persönliche Sicherheit suchen und der Teilreisewarnung des Außenministeriums folgen? Oder an die auf uns wartenden Patienten denken, an die lernbegierigen Ärzte, die wir nicht enttäuschen wollen, an das Wiedersehen mit im vorigen Jahr operierten Kindern und liebenswerten Kollegen vor Ort? Die Regierung von Mozambik hatte vor zwei Stunden das Internet und die Telefon-verbindungen abgestellt. Wir bekommen keine aktuellen Informationen mehr. Haben wir uns umsonst vorbereitet? Vergeblich Spenden gesammelt? All die Kuscheltiere, die uns nur ein paar Tage zuvor die Kindergartenkinder mitgegeben haben, sollen wir sie wieder mit nachhause bringen? Unsere humanitäre Hilfe, dieser Weg direkt von Mensch zu Mensch, sollen wir uns den von politischen Unruhen verbauen lassen? Nein! Unser Beschluss ist gefasst: Wir fliegen!
Nach 14 Stunden Flugreise empfangen uns unsere befreundeten Kollegen am Gepäckband in Beira und nehmen unsere 17 Koffer in Empfang. Sie haben den örtlichen Zoll schon freundlich gestimmt, sodass wir unser medizinisches Material ohne die sonst üblichen Probleme zu den schon wartenden offenen Kleinlastern bringen können. Befangen beäugen wir auf der Fahrt zu unserer Pension die am Autofenster vorbeigleitenden Straßenränder. Überall in den tropisch grünen Baumkronen flattern die roten Fahnen der Regierungspartei. An Häuserwänden und Ruinen wiederholen sich Fetzen von Plakaten der Oppositionspartei. Der Vorwurf von Wahlbetrug erschüttert das Land. Die Geschäfte sind geschlossen. Die emsige Betriebsamkeit der Kleinkrämer, deren Buden die Straßen säumen, ist erloschen. Unsere Pension ist seit dem Wirbelsturm vor 8 Jahr im Rohbau. Ein „Club“ aus der Kolonialzeit hat geöffnet. Wir stärken uns ein wenig, als einzige Gäste. Ein paar Schritte auf der Straße sollten wir im Dunkeln nicht gehen. Die Lage sei unübersichtlich.
Im Krankenhaus scheint alles so vertraut, als seien wir gestern das letzte Mal dort gewesen. Schnell sind die Koffer abgeladen, wir schlüpfen in unsere Arbeitskleidung, bauen Geräte auf und richten den Operationssaal ein. Im Untersuchungsraum wird ein kleiner Patient nach dem anderen hereingeführt. Joaquin, der Waisenjunge, dem „Noma“-Bakterien die linke Gesichtshälfte zerstört hatten, ist der erste. Durch große Operationen hatten wir die letzten Jahre seine Augenlider und den Mund wiederhergestellt. Das Gesicht ist dadurch immer menschlicher geworden und nun gilt es die verbliebenen, noch entstellenden Narben zu korrigieren. Domingo, 8 Jahre, ist als 3jähriger rückwärts ins Feuer gefallen, seine großen Verbrennungswunden auf der rechten Beinrückseite konnten damals nicht behandelt werden. Langsam schrumpfte die Kniekehle, sodass das rechte Bein immer mehr in die Beugung gezwungen wurde. Nun rutscht er auf Knien vorwärts, wirkt halb so groß und wird von vielen übersehen, hat bei jedem „Schritt“ starke Schmerzen. Weitere Patienten drängen in die Tür. Verbrannte Kinderhände strecken sich uns entgegen und in den Augen der Mütter leuchtet die Hoffnung, wir könnten ihrem Kind durch eine Operation ein Leben ohne die Einschränkung einer verkrüppelten Hand eröffnen.
Gegen Abend steigen wir im Dunkeln die drei Teppen zur Kinder-Intensivstation zu den akut Verbrannten herauf. Der vierjährige Angustino ist vor drei Wochen durch eine kurze Unaufmerksamkeit des Vaters ins Herdfeuer gefallen. Gesicht, Arme, Hände und Bauch sind nun mit jodgetränkten ausgefransten Binden umwickelt. Die Haut ist verbrannt, große Flächen rohen Fleisches. Er leidet Höllenschmerzen. Als wir an sein Bettchen treten wimmert er vor sich hin, greift mit seinen verbundenen Händchen hilfesuchend ins Leere. Zum Glück haben unsere Anästhesisten stark wirksame Schmerzmittel dabei.
Auch die Geschichte des 2 jährigen René ist herzzerreißend: Renés Schicksal hatte sich von einem Moment auf den anderen gewendet: ein fröhlich spielender kleiner Junge greift im Übermut in der engen Hütte nach dem Kessel mit brühendem Wasser. Ein kurzes Geschrei, ein kurzer forschender Blick der Mutter: alles beim Alten. Doch beim vorsichtigen Ausziehen des zerrissenen Hemdchens bleibt die Haut daran kleben. Der Weg ins Krankenhaus ist weit und beschwerlich. In der Aufnahmestation gibt es keine Schmerzmittel. Die Haut schält sich von Hals, Brust, Schultern, Armen und Händen. Jeden dritten Tag werden die mit Jod getränkten locker gewebten Kompressen ohne Betäubung von den Wunden gezogen. Wochenlang hält dieses Martyrium an, bis der Körper dicke Narben bildet, die die Gelenke und Rumpf zusammenschrumpfen lassen. Dann hat der Schmerz ein Ende. Das Kind gewöhnt sich an die Fehlfunktion. Renés Hals ist mitten im Schrumpfungsprozess. Sein Kinn wird an seine rechte Schulter gezogen, die Unterlippe weicht nach rechts unten aus. Er kann langsam seinen Mund nicht mehr schließen. Als nächstens werden die Zähne auseinandergezogen, sodass er die Speisen nicht mehr halten kann. René ist blutarm, unterernährt und an seiner Umwelt völlig desinteressiert. Teilnahmslos liegt er zur Seite gerollt in seinem Bettchen.
Die Operationen beginnen mit den kleinen, verbrannten Kindern: Angostino ist der erste. Durch die großen offenen Wundflächen hat er viel Blut verloren. Er braucht eine Bluttransfusion. Alle offenen Wunden werden in dieser ersten Operation gereinigt. Leider ist Angustinos rechtes Händchen nur noch eine wächserne Hülle. Wir müssen es bis zum Handgelenk entfernen, um ihn vor einer Blutvergiftung zu bewahren. Ob der Vater das schon ahnte? Am Abend nach der Operation spielt er rührend mit seinem kleinen Sohn, reagiert auf jede Regung des kleinen Körpers. Angostino ist das einzige Kind, in dessen Bett ein paar Bausteine und ein Bilderbuch liegen. Tag und Nacht sitzt der Vater seit Wochen am Bettchen seines Sohnes. Manchmal übermannt ihn die Müdigkeit und sein Kopf sinkt auf das Kinderbettchen.
Nach 2 Tagen ist bei ihm die zweite Operation möglich. Nun sind die Wunden stabil, keine Infektion. Es kann Haut transplantiert werden. Doch woher gesunde Haut nehmen? Ein großes Stück Bauchhaut ist noch unversehrt. Doch das wird nicht reichen. Hier ist die Kopfhaut eine gute Entnahmestelle. Angostinos behaarter Kopf wird rasiert. Nun besteht die Kunst darin, die Haut so dünn abzunehmen, dass die Haare bald unverändert wachsen und keine Narben sichtbar bleiben. Am Ende der Operation ist das ausgemergelte Körperchen überall in saubere Verbände gewickelt. Wir sollten dafür sorgen, dass er wenigstens ein Ei täglich bekommt, um den großen Eiweißverlust auszugleichen.
Am folgenden Tag ist René an der Reihe. In einer ersten Operation befreien wir seinen Hals indem wir einen Muskel vom Rücken mit Haut nach vorne verpflanzen. Weitere Hauttransplantate müssen auch von Bauch und Beinchen genommen werden bis der Hals gestreckt und der Mund zu schließen ist.
Auch die 7 jährige Wasca hat sich als Kleinkind verbrüht. Wir entlasten die Kontraktur am rechten Ellenbogen, sodass sie ihren Arm wieder strecken, sich ohne fremde Hilfe ankleiden und freier schreiben kann.
Bis zum Einbruch der Nacht hat Domingo mit dem verkrüppelten Bein geduldig auf der Steinbank im Wartesaal auf seine Operation gewartet. Es bedarf vieler Hautplastiken bis am Ende der Operation das Bein in gestrecktem Zustand eingegipst werden kann. Wenn der Gips für 3 Wochen konsequent am Bein bleibt, wird er anschließend wieder einwandfrei auf seinen Füßen stehen und aufrecht gehen können!
Während wir im Hospital 21 Patienten an 5 intensiven Operationstagen versorgen können, nehmen draußen die Straßenkämpfe weiter zu. Auf uns wartet aber noch das Krankenhaus in Nampula im Norden Mosambiks. Wir hatten versprochen, auch hier den verletzten Kindern zu helfen.
Der landesinterne Flug geht über Umwege und ist komplizierter und länger als gewöhnlich. Auf einem Zwischenstopp erleben wir in Maputo, der Hauptstadt von Mozambik, das alles unheimlich ruhig ist, keine Straßenhändler, kein Hupen, keine Autorikschas. Die breite Uferpromenade ist ausgestorben. Vor der großen Markthalle sammeln sich Menschen mit großen Pappschildern zum Protest, Militär zieht auf und es fallen Schüsse. Wir flüchten zurück in den Flughafen.
Im 800 Betten Krankenhaus von Nampula herrscht dichtes Gedränge. Die Korridore sind kaum passierbar. Angehörige schlafen unter den Krankenbetten und auf dem staubigen Boden des Treppenhauses. Die Kinder-Verbrennungsstation ist noch überbelegter als die in Beira. Fliegen auf den Verbänden, leidgeprüfte, ins Leere blickende Kinderaugen. Auf der Intensivstation stirbt ein 9 jähriger an Tetanus.
30 Patienten werden uns vorgestellt. Wir werden nur 15 operieren können. Die Zeit drängt. Eine Traube junger Kollegen schiebt sich in den kleinen Operationsraum. Jeder möchte einen Blick auf das Operationsfeld erhaschen. Dr. Borsche tut sein Möglichstes, ihren Wissensdurst zu befriedigen. Später wird er in einem Vortrag die wichtigsten Prinzipien der Verbrennungschirurgie erläutern, sodass die angehenden Chirurgen in Zukunft den Verbrennungskindern viel Leid ersparen können. Doch nicht nur Operations-techniken sind entscheidend. So braucht die 6jährige Regina 2 Blutkonserven und ein gehaltvolle Mahlzeit, bevor sie in den OP-Bereich gefahren wird. Zu ausgemergelt ist ihr kleiner Körper, zu erschöpft von dem täglichen Kampf gegen die Infektion. Die Wunden an ihrer Seele können wir nicht heilen. Selbst wenn wir ihr einen kleinen Plüschbären, den Kreuznacher Kinder gespendet haben, überreichen, schaut sie nicht auf. Sicherlich kann dieses ganz besondere Geschenk nach überstandener Operation doch noch ihr Herz berühren und sie erfreuen!
Bei der Abschlussvisite winken uns die Patienten in gutem Zustand fröhlich zu. Bis auf die letzte Minute haben wir operiert. Nun müssen wir uns sputen, um zum Flughafen zu kommen. In den Straßen patrouilliert Militär, Panzer rollen auf. Unser Flug ist der letzte des Tages. Rund um das Flughafengebäude steigen Rauchschwaden auf. Erst um 20:00 ist es sicher genug, dass wir in einem völlig überfüllten Kleinbus, von Militär vorne und hinten eskortiert, zum Flugfeld gefahren werden. Nach vielen Stunden landen wir erschöpft wieder sicher in Frankfurt.
Unsere Gedanken sind aber immer noch bei den vielen operierten Patienten, die jetzt von den mosambikanischen Ärzten und Schwestern weiterbetreut werden. Hoffentlich erhalten wir bald Nachricht und die erlösende Botschaft, dass es allen gut geht.
Eva und André Borsche